Kritisches Denken ist die intellektuelle Fähigkeit, Informationen unabhängig von persönlichen Überzeugungen und Meinungen fundiert zu analysieren, zu bewerten und zu synthetisieren. Die Grundlage hierfür bildet die Reflexivität, das Prüfen und Hinterfragen eigener Meinungen, Annahmen, Überzeugungen und Erfahrungen. Im Kontext des kritischen Denkens meint „synthetisieren“ das Zusammenführen von Informationen aus verschiedenen Quellen, um ein besseres Verständnis eines bestimmten Themas oder Problems zu erlangen. Es beinhaltet das Verknüpfen von Informationen und die Schaffung neuer Zusammenhänge, um eine ganzheitliche Sicht auf die Sache zu erhalten. Dabei werden auch widersprüchliche Informationen miteinbezogen und miteinander verglichen, um zu einer fundierten Schlussfolgerung zu kommen.
Persönlichkeitseigenschaften, Erfahrungswerte und Prägungen können das Denken und die Bewertung von Informationen erheblich beeinflussen und verzerren (Bias), ebenso wie äußere Faktoren, insbesondere dynamische Komplexität und Zeitdruck. Zeit ist daher eine wichtige Ressource des kritischen Denkens. Ohne ausreichend Zeit können keine unterschiedlichen Perspektiven eingenommen, Meinungen und Informationen nicht aufgenommen, analysiert, bewertet und synthetisiert werden. Die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion ist eine weitere wesentliche Komponente des kritischen Denkens, da Erkenntnisse und Entscheidungen nicht nur von der Qualität und Vollständigkeit von Daten und Informationen abhängen, sondern auch von der Fähigkeit, mit kognitiven Verzerrungen umzugehen, denen wir täglich ausgesetzt sind.
Kurz zusammengefasst
Negative Einflussfaktoren auf das kritische Denken
Die wichtigsten negativen Faktoren, die das kritische Denken beeinflussen, sind das Zusammenspiel von Komplexität und operativer Hektik. Hektik bedeutet, dass Menschen oft nicht die nötige Zeit nehmen, um Probleme, Situationen und Informationen aus einer Meta-Perspektive zu betrachten und zu analysieren. Stattdessen werden oft Heuristiken eingesetzt, um Komplexität und Stress zu bewältigen. So werden in der Vergangenheit erlernte Muster und Intuition oft auf neue Situationen übertragen, auch wenn sich die Bedingungen dahinter völlig verändert haben mögen.
Gerade in Zeiten, die von Umbrüchen geprägt sind, ist ein lineares Fortschreiben einer vergangenheitsorientierten Sichtweise fatal. Es ist vor allem das kritische Denken, das das Bewährte in Frage stellt. Doch wir Menschen unterliegen oft vielen kognitiven Verzerrungen (Biases), nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der betrieblichen Hektik. Eine kognitive Verzerrung, der Confirmation Bias, führt zum Beispiel dazu, dass wir unbewusst mehr Informationen auswählen und verwenden, die unseren Annahmen und Überzeugungen entsprechen. Dadurch wird der objektive Blick verzerrt. Zu diesem Thema habe ich einen eigenen Artikel und ein eigenes Video erstellt: “Confirmation Bias in der Strategieentwicklung”.
Kritisches Denken erlernen und trainieren
Kritisches Denken ist erlernbar. Wie gut und wie schnell es erlernt werden kann, hängt davon ab, wie gut die verschiedenen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen ausgeprägt sind. Offenheit zum Beispiel, eine der fünf großen Persönlichkeitseigenschaften, ist ein entscheidender Faktor dafür, wie kritisch ein Mensch Dinge hinterfragt.
Aber auch wenn es in der Person liegende Faktoren gibt, die die Fähigkeit des kritischen Denkens beeinflussen, kann kritisches Denken erlernt werden. Grundvoraussetzung ist die Aneignung eines bestimmten Mindsets, nämlich der Fähigkeit zur Selbstreflexion, um eigene kognitive Verzerrungen entlarven zu können.
Voraussetzung: Das richtige Mindset:
Die Voraussetzung für das Erlernen des kritischen Denkens ist eine richtige geistige Grundhaltung, die aus folgenden Prämissen besteht:
Es ist wichtig, dass diese Prämissen ins Bewusstsein gerückt werden. Daniel Kahneman, ein israelisch-amerikanischer Psychologe, der 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde, hat herausgefunden, dass das menschliche Gehirn über zwei Betriebssysteme verfügt. Diese nennt er System 1 und System 2. Beide Systeme sind wie folgt charakterisiert:
Intuition ist demnach dem System 1 zuzuordnen. System 1 übernimmt 98 Prozent unserer Denkleistung, während System 2 nur 2 Prozent unseres Denkens übernimmt und aktiv angewendet werden muss. Im Alltag ist schnelles, intuitives Denken durchaus sinnvoll. Nicht jede Entscheidung muss vorher lange kritisch durchdacht werden. Aber komplexe und strategische Entscheidungen sollten nicht der schnellen Denkweise überlassen werden.
Dass Menschen oftmals dennoch bei komplexen und strategischen Entscheidungen nicht kritisches, und damit langsames, Denken anwenden, hat, wie oben beschrieben, mit Zeitdruck und den unterschiedlichsten kognitiven Verzerrungen zu tun. Verstärkend kommt hinzu, dass der Mensch dazu tendiert, seine Entscheidungen bzw. seine Entscheidungsfähigkeiten als unbeeinflussbar zu halten. Daher ist es wichtig, uns bewusst zu machen, dass unser Denken nicht vollständig unserer eigenen Kontrolle unterliegt.
Unser Denken wird von verschiedenen inneren und äußeren Faktoren beeinflusst und verzerrt, wenn wir nicht darauf achten.Wenn wir diese vier Prämissen verinnerlichen und verstehen, können wir ein Mindset entwickeln, das die Grundlage für weitere aktive Schritte in kritischen Denkprozessen bildet. Diese Schritte beinhalten:
- das Identifizieren des richtigen Problems (Framing),
- das Sammeln von Informationen,
- das Aufstellen von Hypothesen,
- das aktive Zuhören und Beobachten,
- das Stellen von Fragen (einschließlich Fragenketten),
- das Hinterfragen logischer Schlussfolgerungen und
- das Reifenlassen von Entscheidungen.

Problem definieren (Framing)
Betriebliche Hektik und Komplexität führen oft dazu, dass Probleme nicht oder nicht ausreichend analysiert werden. Oft werden sogar Symptome mit Ursachen verwechselt. Ein klassisches Beispiel in der Suchmaschinenoptimierung ist, dass der Einbruch oder die Verschlechterung der Platzierungen in den Suchmaschinen häufig als das eigentliche Problem angesehen wird. Tatsächlich ist dies nur die Auswirkung von dahinterliegenden Problemen.
Wenn der Website-Verkehr einbricht, Chaos und Stress zunehmen und versucht wird, ein Problem zu lösen, das noch nicht erkannt und verstanden wurde, dann wird sozusagen auf alles geschossen, was einem in den Sinn kommt: Schnellere Server werden eingerichtet, Linkstrukturen optimiert und neue Content-Management-Systeme eingeführt. Das eigentliche Problem kann jedoch darin liegen, dass die eigene Seite den Kriterien Expertise, Authority und Trust weniger entspricht und die Konkurrenten dadurch in den Rankings vor das eigene Portal gerückt sind.
Daher ist es entscheidend, zu Beginn das Problem in Ruhe zu analysieren. Passend dazu hat Albert Einstein gesagt: „Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, würde ich 55 Minuten damit verbringen, über das Problem nachzudenken und fünf Minuten über die Lösung“.
Daten & Informationen suchen
Nicht die Quantität, sondern die Qualität der Daten und Informationen ist entscheidend. Gerade im Internet besteht die Gefahr, dass Informationen falsch oder tendenziös sind, insbesondere bei gesundheits- oder finanzbezogenen Themen, wie bspw. Versicherungen oder Fonds, bei denen Finanzdienstleister ihre teureren Produkte verkaufen wollen. Es ist daher wichtig, die Quelle kritisch zu hinterfragen und mehrere Quellen zu konsultieren.
Hypothesen aufstellen
Um zu verstehen, wie Hypothesenbildung mit kritischem Denken zusammenhängt, muss man das Kernprinzip des unkritischen oder oberflächlichen Denkens betrachten. Dabei wird ein linearer Prozess angewendet, bei dem Informationen ohne größere Bewertungen herangezogen werden und ein Verständnis der Fakten daraus abgeleitet wird. Dieser Ansatz birgt oft den Fehler des Confirmation Bias, bei dem Menschen unterbewusst nur Informationen heranziehen, die ihren Meinungen und Überzeugungen entsprechen.
Im Sinne des kritischen Denkens müssen nicht alle Daten und Informationen von vornherein vollständig und validiert sein. Der Ansatz des kritischen Denkens leitet aus Daten, Informationen und deren Interpretationen Hypothesen, d.h. unbewiesene Annahmen, ab. Diese Annahmen können dann gezielt überprüft werden und dienen dem kritisch denkenden Menschen dazu, gezielte Fragen zu stellen und nach relevanten Informationen zu suchen.
Aktives Zuhören und Beobachten
Zuhören ist kein passiver Vorgang oder das devote Anbieten eines untergeordneten Ranges. Man kennt sicherlich Vorgesetzte, die autokratisch handeln und aus einem falschen Verständnis von Hierarchie nicht zuhören können oder wollen. Aktives Zuhören ist ein notwendiger Prozess des Hinterfragens logischer Strukturen und des Verstehens. Denn das menschliche Gehirn arbeitet oft mit mentalen „Abkürzungen“, den so genannten Heuristiken, die Entscheidungen bei fehlenden oder unvollständigen Informationen ermöglichen.
Heuristiken sind zwar wichtig, bergen jedoch die Gefahr, bei fehlenden oder unvollständigen Informationen falsche Entscheidungen zu treffen. Aktives Zuhören erhöht das Verständnis und verringert das Risiko kognitiver Verzerrungen und folglich auch das Risiko von Fehlentscheidungen. Zudem fördert aktives Zuhören eine vertrauensvolle und respektvolle Beziehung zwischen Menschen und reduziert den Druck der sozialen Erwünschtheit. Wer also kritisch denken will, muss das Zuhören üben.
Fragen stellen
Fragen zu stellen bedeutet auch immer, sich mit dem eigenen Unwissen auseinanderzusetzen und es auch einzugestehen. Unwissen und damit einhergehende Unsicherheit stehen dem Streben von Menschen nach Stabilität und Orientierung entgegen. Deshalb tendieren Menschen dazu, sich mit einfachen Antworten zufriedenzugeben und nicht weiter nachzuhaken, insbesondere wenn eine Person sich außerhalb ihres Fachbereichs oder ihrer Komfortzone bewegt. Und dieses Verhalten wird durch Komplexität, operative Hektik und den damit verbundenen Zeitdruck verstärkt.
Kritisches Denken erfordert das Stellen kritischer Fragen. Kinder machen es uns vor: Auf jede Antwort stellen sie die nächste Warum-Frage. Diese Kette an Fragen führt oft dazu, dass wir irgendwann selbst keine Antwort mehr haben, vorherige Antworten selbst hinterfragen und uns vor allem selbst hinterfragen, warum es so schwer ist, auf Fragen zu antworten, auch wenn sie noch so einfach erscheinen. Fragen zu stellen bereichert also nicht nur denjenigen, der die Fragen stellt und Antworten erhält, sondern auch denjenigen, der die Ketten an Fragen beantworten muss.
Folgefragen sind aus diesem Grund elementar für ein kritisches Verständnis. Wichtig ist jedoch, dass Fragen nicht wie in einem Verhör gestellt werden. Wer kritisch denken möchte, muss seinem Gegenüber die Chance geben, selbst über seine Antworten zu reflektieren, bevor er sie gibt. Erwartungsdruck und soziale Erwünschtheit können schnell zu verzerrten Antworten führen.
Logische Schlussfolgerung
Logikketten eines Arguments müssen kritisch hinterfragt werden. Ist die Logikkette an jedem einzelnen Punkt mit Beweisen unterlegt oder handelt es sich lediglich um vage Annahmen oder Interpretationen? Bei zukunftsbezogenen Themen wie beispielsweise strategischen Themen können Beweise natürlich nur selten erbracht werden, da die Zukunft immer ungewiss ist. Dennoch muss auf eine kohärente Logikkette geachtet werden, um nicht zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen.
Eine fehlerhafte Schlussfolgerung ist zum Beispiel die Post-Hoc-Fallacy. Hier werden Korrelationen mit Kausalität verwechselt. Weil Ereignis B also auf Ereignis A folgte, muss Ereignis B dementsprechend auch durch Ereignis A verursacht worden sein.
Beispiel:
Ein Verlag reduziert sein Budget für technologische Weiterentwicklung, nachdem die meisten seiner Online-Besucher über Google generiert wurden. Nach einem Google-Update verloren die Online-Portale des Verlages Rankings in den Suchergebnissen und Besucherzahlen gingen zurück. Die Schlussfolgerung, dass die Budget-Reduzierung für den Ranking-Abfall verantwortlich war, war voreilig und ungenau. Tatsächlich führte das Update zu einer höheren Diversität in den Suchergebnissen und bevorzugte spezialisierte Seiten mit hohem Expertise- und Autoritätslevel. Die Komplexität der Veränderungen und operative Hektik führten dazu, dass die systemischen Zusammenhänge nicht kritisch durchdacht wurden und die falsche Schlussfolgerung gezogen wurde. Der gesamte Sachverhalt wurde trivialisiert.
Entscheidungen reifen lassen
Selbstverständlich gibt es viele Entscheidungen, die schnell getroffen werden müssen. Wir müssen jedoch unterscheiden zwischen Wichtigkeit und Dringlichkeit. Nicht alles, was wichtig ist, ist auch dringlich. Oft setzen Menschen jedoch Wichtigkeit mit Dringlichkeit gleich. Dabei ist es im wahrsten Sinne des Wortes wichtig, vor einer Entscheidung „einmal eine Nacht drüber zu schlafen“.
Im Rahmen der Studie „Sleep on it, but only if it is difficult: Effects of sleep on problem solving“ der Lancaster University wurde belegt, dass Schlaf tatsächlich einen bedeutenden Einfluss auf unsere Fähigkeit hat, Probleme zu lösen. Russell Sanna, Ph.D., Executive Director der Schlafmedizin an der Harvard University, empfiehlt: „Analysieren Sie das Problem und seine möglichen Lösungen, [dann] schlafen Sie darüber, bevor Sie eine endgültige Entscheidung treffen.“
Durch Schlaf kann das Gehirn Informationen besser aufnehmen, verarbeiten und miteinander verknüpfen. Sanna beschreibt das wie folgt: „Verschiedene Dokumente werden in verschiedenen Teilen des Gehirns abgelegt, und die Zugangswege zu diesen verschiedenen Dateien werden [während] des Schlafs konsolidiert“. Wer also kritisch denken möchte und komplexe Probleme und Fragestellungen lösen will, sollte sich Zeit nehmen, um Informationen und Entscheidungen reifen zu lassen.
Leitlinien für kritisches Denken
Folgende Leitlinien können Dir als Orientierung dabei helfen Deine Fähigkeiten des kritischen Denkens zu verbessern. Je häufiger Du sie bewusst berücksichtigst und anwendest, desto schneller werden sie unbewusster Bestandteil Deiner Denk- und Kommunikationsprozesse.
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