Optimierung, egal ob es sie sich auf körperliche Leistungsfähigkeit, Produkteigenschaften, Prozesse oder ganze Systeme bezieht, ist in der Regel immer einer Gesetzmäßigkeit unterworfen: Ab einem gewissen Optimierungsgrad nimmt der Optimierungszuwachs bei gleichbleibender Anstrengung und gleichbleibendem Einsatz entsprechender Ressourcen ab. Der relative Zugewinn durch Optimierung wird also immer geringer. Die Optimierungsbemühungen müssen somit immer weiter intensiviert werden um den Optimierungsgrad zumindest etwas erhöhen zu können. Ab einem gewissen Grad sind die Kosten der Optimierung jedoch höher als ihr Gewinn. Spätestens an diesem Punkt ist die Frage zu klären, ob statt des Festhaltens an bestehenden Prozessen, Dienstleistungen, Produkten oder Systemen, eine radikale Umwälzung nicht die sinnvollere Alternative wäre.

Der Organisationspsychologe Prof. Dr. Peter Kruse hat hierfür die Begriffe Funktionsoptimierung und Prozessmusterwechsel geprägt und anhand des Fosbury Flops sehr anschaulich erklärt (Kruse, 2004). So wurde der Fosbury-Flop als revolutionäre Sprungtechnik im Hochsprung von dem damaligen amerikanischen Leichtathleten Dick Fosbury entwickelt. Mit Hilfe dieser Technik, bei der der Athlet im Gegensatz zu allen anderen etablierten Techniken zuvor nicht vorwärts, sondern rückwärts über die Stange springt, gewann Fosbury 1968 die Olympischen Spiele.

Trotz dieses offensichtlichen Erfolgs der neuen und überlegenden Sprungtechnik, wurde der Fosbury Flop in den Folgejahren belächelt und die meisten Athleten hielten an der bisherigen Sprungtechnik, dem Straddle, fest. Doch trotz aller Bemühungen die altbewährte Technik zu optimieren, war sie der neuen Technik des Fosbury Flops unterlegen. Stolz und Angst vor dem Unbekannten haben dazu geführt, dass an Bestehendem festgehalten wurde. Die Funktionsoptimierung hat den Veränderungen des Systems nicht mehr Schritt halten können.

Temporärer Leistungsrückgang durch systemische Umstellung

Eine Abkehr von der gewohnten Optimierung hin zu einem Musterwechsel ist in der Regel immer mit einem temporären Verlust an Leistung verbunden, ehe es zu einem größeren Leistungssprung kommt. Das hat damit zu tun, dass sich je nach Thema Menschen physisch, emotional und kognitiv umstellen müssen und die Einspielung neuer Strukturen, Prozesse und Systeme somit Zeit benötigt. Besonders gut und häufig zu beobachten ist dieser temporäre Leistungsrückgang bei der Einführung neuer IT-Systeme. Zum einen müssen oft selbst nach Implementierung des Systems noch Anpassungen vorgenommen werden. Zum anderen haben Mitarbeiter im Umgang mit dem alten System Routinen entwickelt, weshalb ihnen Zeit zugesprochen werden muss um auch mit dem neuen System vertraut umgehen zu können. Die Dauer des Leistungsabfalls sowie auch sein Ausmaß sind schwer vorherzusagen. Es ist diese Unsicherheit, die Unternehmen an der bestehenden Optimierung festhalten lässt, statt sich dem eigentlich notwendigen Musterwechsel zuzuwenden.

Optimierung ohne kreative Störung führt langfristig zum Scheitern

Warum halten Unternehmen an der Optimierung fest?

Warum halten Unternehmen an der Optimierung von Prozessen, Produkten oder Dienstleistungen fest, wenn sie erkennen, dass eine Änderung der Prozessmuster der sinnvollere Weg wäre? Die wichtigsten Ursachen hierfür sind die folgenden:

  • Abhängigkeit von Beratern: Bestehende Optimierungsansätze in Frage zu stellen bedeutet immer auch, dass man sich selbst, bzw. seine eigenen Denkmuster, ständig in Frage stellen muss. So wichtig diese Fähigkeit heutzutage ist, so selten gibt es Menschen, die dazu in der Lage sind. Insbesondere Berater, die in der Vergangenheit durch bestimmte Beratungsansätze Erfolge erzielen konnten, können sich kaum von diesen mental lösen, auch wenn sich die Bedingungen und die Anforderungen verschoben haben und der gestrige Beratungserfolg somit nicht mehr für diese neuen Bedingungen der Richtige ist. Erfahrung kann also, je nach Persönlichkeit des Beraters, auch zu starren mentalen Denkmodellen führen.

  • Keine Risikobereitschaft: Ein Prozessmusterwechsel ist zwar notwendig wenn der Einsatz der Optimierung größer ist als ihr Ergebnis, allerdings geht mit ihm auch immer ein Risiko einher. Nicht zuletzt, da durch einen Prozessmusterwechsel bestehende Routinen durchbrochen werden müssen. Das Risiko auf der einen Seite und die sinkenden Optimierungsergebnisse auf der anderen führen zu einer kognitiven Dissonanz. Die Dissonanz wird häufig dadurch ausgeglichen, dass auf das Risiko zu Lasten des Prozessmusterwechsels verzichtet wird und stattdessen die Bemühungen zur Optimierung erhöht werden. Dadurch werden Ressourcen gebunden, die den veränderten Bedingungen allerdings nicht mehr gerecht werden können. Das „wir tun ja was“ gibt den beteiligten Personen ein trügerisches Gefühl der Selbstsicherheit, was die Fähigkeit der Selbstreflexion weiter lähmt.

  • Operative Hektik: Operative Hektik führt dazu, dass Bewährtes nicht oder nur unzureichend reflektiert wird. Unternehmen müssen daher Strukturen und Prozesse aufbauen und entwickeln, die entsprechende Reflexionen und systemische Denkweisen ermöglichen. Nähere Informationen und Hilfen werden hierzu in den Artikeln Warum Spannungsverhältnisse notwendig sind und Systemische Denkweise in Unternehmen geliefert.

Beispiel: Suchmaschinenoptimierung (SEO)

Stark vereinfacht gesagt hat es sich in der Vergangenheit bei Suchmaschinenoptimierung vor allem um technische Maßnahmen gehandelt, mit denen man versucht hat Rankingpositionen bei Suchmaschinen nach oben zu bringen. Mehr Leser und mehr Käufer war das erklärte Ziel. Die Maßnahmen und Analysen wurden immer ausgefeilter. Doch im Jahr 2019 nahm Google eine Veränderung am Suchalgorithmus vor, durch den Seiten auch anhand der Kriterien Expertise, Authority und Trust (E-A-T) bewertet wurden. Ebenso wurden die Suchergebnisse stärker diversifiziert, so dass von Seiten mit semantisch sehr ähnlichen Antworten in der Regel nur noch eine auf den vordersten Positionen ranken konnte, denn für den User haben sehr ähnliche und somit austauschbare Antworten / Suchergebnisse nur einen geringen Mehrwert.

Von diesen Veränderungen wurden unter anderem große Gesundheitsportale getroffen, denn diese bieten Inhalte zu allen gesundheitsbezogenen Themen an. Die Abdeckung eines solch breiten Themenspektrums geht allerdings zu Lasten der Informationstiefe, die wiederum von spezialisierten Seiten, z.B. nur zum Thema Krebs, geliefert werden können. Hinzu kommt, dass sich die großen Gesundheitsportale in ihren Themen und Inhalten so sehr ähneln, dass die von Google präferierte Diversität häufig nur noch ein Gesundheitsportal auf der ersten Suchergebnisseite zulässt.

Die Spielregeln haben sich also grundlegend geändert. Inzwischen sind strategische Fragestellungen für den Erfolg guter Rankings entscheidend. Wie kann man sich beispielsweise vom Wettbewerb differenzieren und dabei den Mehrwert für den User / Leser erhöhen? Wie sollte man sich inhaltlich positionieren und fokussieren um den Kriterien Expertise, Authority und Trust gerecht zu werden? Welche Ressourcen sind dafür notwendig und wie muss die interne Organisation diesen neuen Anforderungen entsprechend angepasst werden?
Statt diesen Systemwechsel zu erkennen und zu akzeptieren, agieren viele Gesundheitsportale nach dem alt-bewährten Muster und intensivieren ihre Optimierungsversuche im Bereich der Technik. Doch auch wenn die technische Optimierung weiterhin wichtig ist, so ist sie isoliert betrachtet kein Wettbewerbsvorteil mehr, der über gute oder schlechte Rankings entscheidet.

Empfehlungen

Unternehmen halten, wie zuvor erklärt, überwiegend aufgrund starrer mentaler Modelle und Risikoaversion zu lange an Optimierungsroutinen fest. Folgende Empfehlungen können der Organisation dabei helfen bestehende Optimierungsroutinen zugunsten eines Musterwechsels in Frage zu stellen:

  • Interne Spannungsverhältnisse erzeugen: Starre Organisationsstrukturen können keine systemische Denkweise fördern. Es ist wichtig, dass gezielt Spannungsverhältnisse erzeugt werden, die dem Streben der Organisation und ihrer Mitglieder nach Gleichgewicht und Stabilität entgegenwirkt. Näheres hierzu wird im Artikel „Warum Spannungsverhältnisse notwendig sind“ erklärt.

  • Resonanzfähigkeit erhöhen: Für die Resonanzfähigkeit und somit die Fähigkeit der Selbstreflexion einer Organisation ist ein hoher Vernetzungsgrad notwendig. Entscheidend hierfür ist der Aufbau adaptiver Innovations-Ökosysteme, für die wiederum eine entsprechende Unternehmenskultur notwendig ist. Grundsätzlich muss als Teil der Unternehmenskultur festgehalten werden, dass Innovation nicht allein aus der internen Organisation heraus entstehen kann. Im Sinne des Open Innovation Ansatzes erfordert Innovation und die Fähigkeit des Musterwechsels die Bereitschaft des offenen Austauschs auch über die internen Organisationsgrenzen hinweg.

  • Nicht auf einzelnen Berater verlassen: Je nach strategischem Grad des Themas empfiehlt es sich mehrere unterschiedliche interne, als auch externe Berater hinzuzuziehen, um auch hier den Austausch und erwünschte Spannungsverhältnisse aufzubauen.

Quellen

  • Kruse, P. (2004) Erfolgreiches Management von Instabilität. 8th ed. Offenbach am Main: GABAL.