Organisatorische Ambidextrie ist die Fähigkeit eines Unternehmens, gleichzeitig sowohl inkrementelle als auch diskontinuierliche Innovation zu betreiben, indem scheinbar widersprüchliche Strukturen, Prozesse und Kulturen innerhalb eines Unternehmens vereint werden um beide Zielsetzungen zu erreichen.

Ein Grundproblem von Unternehmen besteht darin, auf der einen Seite das gegenwärtige Geschäft abzuschöpfen um die aktuelle Überlebensfähigkeit zu gewährleisten, zugleich aber auch die Organisation so auszurichten und Ressourcen aufzuwenden, dass neue Geschäftsmodelle, Produkte, Services oder sonstige Werte entdeckt und entwickelt werden, um auch die zukünftige Überlebensfähigkeit zu ermöglichen. Die Schwierigkeit eine Balance zwischen beiden notwendigen Zielen herzustellen wird durch die Tendenz verursacht, dass Unternehmen mit größerer Sicherheit kurzfristige Erfolge mit der Abschöpfung bestehender Werte erzielen können, als mit der per se unsicheren Exploration neuer Werte.

Organisatorische Ambidextrie
„Exploration is associated with organic structures, path-breaking, and emerging markets and technologies, while exploitation is associated with mechanistic structures, path dependence, and stable markets and technologies.“
Zakrzewska-Bielawska, 2016, p. 599
Organizational ambidexterity is a way for organizations to accommodate the tensions arising from simultaneous exploration and exploitation.
Heracleous et al., 2017, S .327

Warum ist Ambidextrie so wichtig?

Das Scheitern, oder sogar das Verweigern von Veränderungen wie digitale Transformationen, entsteht häufig durch das augenscheinliche Paradoxon, dass Unternehmen auf der einen Seite (noch) erfolgreiche und funktionierende Geschäftsmodelle, Produkte oder sonstige Werte weiterentwickeln oder ausschöpfen müssen und wollen (Exploitation), auf der anderen Seite aber auch Innovationen gesucht und implementiert werden müssen (Exploration). Tradition und Innovation benötigen unterschiedliche Strukturen und Prozesse, die Fähigkeit die daraus resultierenden Spannungen zu lösen bezeichnet man als Ambidextrie. Ambidextrie lässt sich mit beidhängig übersetzen (ambo, lateinisch für ‚beide‘; dexter, lateinisch für ‚rechte Hand‘).

Entsprechend der Definition von Zakrzewska-Bielawska, ist für Unternehmen, die in einem unruhigen Marktumfeld operieren, die Entwicklung hin zu einem organischen System noch wichtiger, als für Unternehmen innerhalb eines ruhigen und stabilen Marktumfeldes. Aber genau hier liegt das Problem: Die Frage nach dem Unternehmensdesign und der Unternehmenskultur hängt folglich eng mit der Frage nach der Unternehmensstrategie zusammen. Strategien, die also, wie es bei digitalen Transformationen charakteristisch ist, eine vom bisherigen Geschäft abweichenden, disruptiven Charakter haben, benötigt dezentrale Strukturen, in denen Wissen und Kreativität gefördert uns ausgetauscht werden können, und die somit ein Durchbrechen bestehender Denkmuster ermöglichen. Die Notwendigkeit für Unternehmen ihre Strukturen an sich ändernde Umweltbedingungen und somit an sich ändernden Strategien anzupassen, beschreibt Chandler (1962) mit seinem Postulat “structure follows strategy”. Er sagt, dass wenn Struktur nicht der Strategie folgt, daraus Ineffizienzen resultieren („unless structure follows strategy, inefficiency results”; Chandler, 1962, p.314).

Wenn man also Prozesse als Mittel betrachtet, und sich im Rahmen der digitalen Transformation die Ziele deutlich von den bisherigen traditionellen“ strategischen Zielsetzungen und Zielerreichungsprozessen unterscheiden, benötigt man nun andere Mittel und Prozesse um diese neuen Ziele zu erreichen. Das Problem ist aber, dass viele Veränderungen wie die digitale Transformation länger dauernde Prozesse sind, und somit eine Spannung zwischen dem Streben nach neuen Kompetenzen (Exploration), und dem Nutzen und der Weiterentwicklung bestehender Kompetenzen (Exploitation) entsteht. Die Fähigkeit des Lösens dieser Spannung, die durch die gegensätzlichen Strategien und entsprechender Anforderungen entstehen, nämlich einerseits Stabilität zu gewährleisten und andererseits Flexibilität zu erzeugen, nennt man Ambidextrie. Organisatorische Ambidextrie stellt eine Möglichkeit für Organisationen dar, die Spannungen, die sich aus der gleichzeitigen Exploration und Exploitation ergeben, zu lösen (Heracleous et al.).

Strukturelle Ambidextrie

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten die beschriebene Spannung zu lösen, nämlich mit Hilfe der strukturellen und der kontextuellen Ambidextrie: Bei der strukturellen Ambidextrie werden durch eine strukturelle Aufteilung von Exploration und Exploitation in zwei unabhängige Geschäftsbereiche überführt. Besonders die Strukturen der Exploration sind informell, risikotolerant, dezentralisiert und mit mehr Freiheitsgraden ausgestattet. Klassische Beispiele für eine strukturelle Ambidextrie sind Forschungs- und Entwicklungseinheiten (F&E), die von all den übrigen Organisationseinheiten weitestgehend isoliert operieren.
Das Problem bei der strukturellen Ambidextrie ist allerdings, dass unterschiedliche Strukturen bei Exploitation und Exploration zu Spannungen zwischen beiden Geschäftseinheiten führen können. Vor allem, wenn die exploitative Geschäftseinheit dadurch verstärkt den Eindruck bekommt bei der Zukunftsgestaltung der Organisation ausgegrenzt zu werden. Hinzu kommt die Schwierigkeit die in der ausgelagerten Organisationseinheit entwickelten Ideen und Konzepte in das Gesamtunternehmen einzubinden.

Aufgrund der Nachteile der sollten trotz formaler Strukturunterschiede informelle Organisationsstrukturen aufgebaut, beziehungsweise gefördert werden werden, die den Wissensaustausch fördern. Shibata et al. (2018, p.3 et al.) sagen hierzu, dass das Fehlen eines geeigneten Mechanismus, der die Explorations- und Exploitation Aktivitäten verbindet dazu führen kann, dass diese von den Hauptgeschäftsbereichen des Unternehmens isoliert werden, was zu bereichsübergreifenden Konflikten innerhalb eines Unternehmens führen kann (“a lack of a suitable mechanism connecting exploration and exploitation activities may result in isolation of the former from the company’s main lines of business, leading to interdivisional conflicts within a company.”

Kontextuelle Ambidextrie

Der Ansatz der kontextuellen Ambidextrie besagt, dass für die unterschiedlichen Anforderungen durch Exploration und Exploitation keine getrennten Unternehmenseinheiten notwendig sind. Stattdessen sollen Organisation und Arbeitsplatz so angepasst werden, dass die Mitarbeiter die Spannungen akzeptieren können, und sie die Bereitschaft und Fähigkeit entwickeln am Transformations-, Innovations- und Kreativprozess teilzunehmen. Während sich die strukturelle Ambidextrie also überwiegend auf die formale Organisation bezieht um Exploration und Exploitation parallel zu gewährleisten, liegt der Fokus der kontextuellen Ambidextrie auf dem Mitarbeiter, die dazu ermutigt und befähigt werden sollen eigene Entscheidungen hinsichtlich der Abwägung zwischen Exploration und Exploitation zu treffen. Ein bekanntes Beispiel ist Googles 80:20 Regel, die den Mitarbeitern 20 Prozent ihrer Arbeitszeit zu Verfügung stellt um zukunftsbezogene Ideen zu entwickeln und auszuarbeiten.