“Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um die Welt zu retten, würde ich 59 Minuten damit verbringen, das Problem zu definieren, und eine Minute lang es zu lösen”.
Eine systemische Denkweise ist ein Paradigma, das ermöglicht Zusammenhänge zu erkennen, statt nur die einzelnen voneinander isolierten Bestandteile. Das Grundprinzip der systemischen Denkweise lautet also, dass das Erste das Zweite bedingt und dass das Zweite das Erste unterstützt. Erst diese Abhängigkeit, dieses rekursive Zusammenspiel der unterschiedlichen Variablen, ergibt das synergetische Ganze. Das große “Ganze” ist somit nicht nur die bloße Summe aus den einzelnen Variablen eines Systems. Das Erkennen der schleifenartigen Zusammenhänge, die in Unternehmen die „blinden Flecken“ ergeben, ist Ziel und Gegenstand der systemischen Denkweise.
Im Kontext der systemischen Denkweise definiert Mella (2012) ein System als „einen einheitlichen Satz interagierender Variablen, die durch Schleifen miteinander verbunden sind – die in der Lage sind, aufkommende Makrodynamiken zu erzeugen, die mit keiner der Mikrodynamiken der einzelnen Variablen oder ihrer Teilsysteme zusammenfallen„.
Beispiel für ein System

Die eher technische Definition eines Systems lässt sich mit einem vereinfachten Modell zum Thema Innovationsgrad in Unternehmen exemplarisch erklären:
Mit steigendem organisatorischen Wissen steigt in Unternehmen auch der Innovationsgrad. Ein steigender Innovationsgrad wiederum bedeutet auch eine Steigerung des organisatorischen Wissens – beispielsweise aufgrund neuer Erfahrungswerte durch den Einsatz neuer Technologien, oder durch Innovationsprojekte. Allerdings erhöht sich mit einem steigenden Innovationsgrad eines Unternehmens auch die organisatorische Komplexität – beispielsweise durch mehr Mitarbeiter, neue Strukturen, neue Prozesse oder auch durch das Zustandekommen strategischer Partnerschaften und Open Innovation Ansätze.
Steigende organisatorische Komplexität wiederum kann eine hemmende Wirkung auf den Innovationsgrad des Unternehmens ausüben – beispielsweise wenn einhergehend mit der neuen Komplexität Kommunikationsstrukturen, IT-Systeme, Führung und Kultur nicht adäquat weiterentwickelt werden. Möchten Unternehmer und Manager den Innovationsgrad in Unternehmen also erhöhen, müssen sie systemisch denken. Das bedeutet, dass sie alle Variablen berücksichtigen müssen – und wie sich diese einander bedingen. Die lineare Herleitung kausaler Zusammenhänge reicht nicht aus.
So reichen beispielsweise IT-Systeme nicht zur Steigerung des organisatorischen Wissens aus, wenn die Unternehmenskultur die Mitarbeiter nicht dazu befähigt und ermutigt ihr Wissen zu teilen. Ebenso reicht die richtige Unternehmenskultur allein nicht aus, wenn es keine technischen, strukturellen und räumlichen Möglichkeiten zur Speicherung und Weitergabe von Daten, Informationen und Wissen gibt. Beide Dimensionen, sowohl Kultur als auch Technik, stehen wiederum mit den Variablen der strategischen Dimension in einer Wechselbeziehung, und so weiter.
Ebenso beim Thema der digitalen Transformation reicht es nicht aus lediglich die technische Seite zu berücksichtigen. Auch die drei Dimensionen Kultur, Strategie und Organisationsdesign sind mit all ihren Variablen Teil des Systems der digitalen Transformation. Näheres hierzu ist in dem Artikel „Digitale Transformation: Eine Erklärung“ beschrieben sowie in der von mir durchgeführten Studie „Aligning Strategic Enablers For Accelerating The Digital Transformation“.
Regeln der systemischen Denkweise
Gesetz der systemischen Denkweise
Manager und Führungskräfte müssen verstehen, dass sich all die Themen, Probleme und Herausforderungen, mit denen sie sich auseinanderzusetzen haben, aus miteinander verbundenen und interagierenden Variablen bestehen. Um dies zu können, müssen die zuvor beschriebenen fünf Regeln berücksichtigt werden, aus denen sich ein übergeordnetes Gesetz der systemischen Denkweise ergibt:
Unternehmer, Manager und Führungskräfte dürfen sich nicht darauf beschränken, Probleme als unerwünschte Symptome unmittelbarer Ursachen zu betrachten, die es zu entdecken und zu beseitigen gilt – also eine symptomatische Lösung. Probleme aus Sicht der systemischen Denkweise sind unerwünschte Auswirkungen der Funktionsweise eines Systems, die identifiziert und kontrolliert werden müssen.
Hieraus ergeben sich zwei weitere Grundsätze:
Die Schwierigkeit des systemischen Denkens in Unternehmen
Fehlende systemische Denkweise führt häufig zu großen Problem auf strategischer Ebene. Die Gründe hierfür liegen zum einen in streng formalen Organisationsstrukturen. Formale Organisationsstrukturen sind unter anderem durch funktionale Silos charakterisiert, was der systemischen Betrachtung bestimmter Sachverhalte konträr entgegensteht. Denn funktionale Silos bedeuten immer auch eine fehlende vertikale Kommunikation, und ein Verharren in der Denkweise des eigenen funktionalen Silos. Das Zusammenspiel der einzelnen Variablen, das überhaupt erst das große Ganze ergibt, kann somit nicht erkannt werden. Formale Organisationsstrukturen hemmen also die systemische Denkweise.
Zum anderen führen auch Routinen und operative Hektik dazu, dass komplexe strategische Problem- und Fragestellungen nicht mit der nötigen Distanz zum Tagesgeschäft analysiert und bearbeitet werden. Unternehmen sind so darauf fokussiert Lösungen zu finden, ohne dass sie dabei das Problem ausreichend genug betrachten und verstehen. Albert Einstein hat die Notwendigkeit einer gescheiten Problemerfassung wie folgt auf den Punkt gebracht: “Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um die Welt zu retten, würde ich 59 Minuten damit verbringen, das Problem zu definieren, und eine Minute lang es zu lösen”. Die Erfassung komplexer Probleme ist ohne eine systemische Denkweise nicht möglich. Operativer Druck verführt Unternehmen aber zu oft dazu sich nicht genügend Zeit der Problemerfassung, der Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Variablen zu nehmen.
Scheitern des systemischen Denkens in Unternehmen – Ein Beispiel
Nahezu alle E-Commerce und Informationsportale sind von Google abhängig, da sie über die Suchmaschine den Großteil ihrer Besucher und Kunden bekommen. Über viele Jahre hinweg konnten die Seitenbetreiber mit Hilfe relativ einfacher Maßnahmen gute Ergebnisse bei den Google Suchergebnissen erzielen, was viele Besucher und Kunden bedeutet hat. Über die Jahre wurde der Suchalgorithmus aber immer ausgefeilter. Waren es früher isolierte technische und inhaltsbezogene Maßnahmen, die zum Erfolg führten, wurden die Suchmaschinen nun immer besser Nutzer- und Leserzufriedenheit, Expertise, Autorität, Trust und auch Relevanz und Einzigartigkeit in Relation zu Wettbewerbern zu bewerten.
Technische Maßnahmen, und solche, die nicht die Differenzierung zum Wettbewerb, Autorität. Expertise und Vertrauen zum Gegenstand hatten, führten allein nicht mehr zum Erfolg. Was war geschehen? Große Portale, insbesondere im Gesundheits- und Finanzbereich, die zuvor die Suchergebnisse innerhalb ihrer Themenbereiche dominiert hatten, haben viele ihrer Suchergebnisse an kleine, dafür aber spezialisierte Portale mit einem hohen Grad an Expertise, Autorität und Vertrauen verloren. Es hat sozusagen eine Fragmentierung der Suchergebnisse stattgefunden.
Und warum? Weil die Bewertung der Suchergebnisse nun aus systemischer Sicht erfolgt, denn die in den Fokus gerückten Bewertungsdimensionen Expertise, Autorität, Vertrauen, Relevanz und Differenzierung stehen untereinander in einer systemischen Beziehung. Die eindimensionale Betrachtungsweise von Technik und Inhalt reicht also nicht mehr aus. Technik, Inhalt, Struktur, Usability, User-Experience bedingen einander, und unter anderem diese Faktoren wiederum bedingen Expertise, Autorität, Trust, Relevanz und Differenzierung.
Diese Komplexität, insbesondere vor dem Hintergrund des Wettbewerbs, muss im Detail analysiert werden um daraus entsprechende Lösungen abzuleiten. Aber warum betrachten und analysieren die meisten betroffenen Unternehmen dieses Problem nicht aus systemischer Sicht? Zum einen, weil bestehende Routinen, operative Hektik und Zwänge es verhindern vorherrschende mentale Denkmodelle an sich neue komplexe Situationen anzupassen. Zum anderen durch funktionale Silos, die nur Denkweisen innerhalb eben nur dieser Silos zulassen und somit systemische Denkweisen blockieren.
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